Internationaler Handel, Geopolitische Trends im Handel und ihre Konsequenzen für Unternehmen
Hinter uns liegt ein für den internationalen Handel turbulentes Jahr. Doch Volatilität bringt nicht nur zahlreiche Herausforderungen mit sich – sie bietet auch Chancen.
Das wissen die Expertinnen und Experten der Commerzbank, die jüngst gemeinsam über die Auswirkungen der geopolitischen Trends auf die verschiedenen Regionen und Lieferketten diskutierten.
Welche Folgen hat das für multinationale Unternehmen?
Ivica Langauer: Die Neuausrichtung von Handelsrouten ist kein neues Phänomen. Russische Unternehmen wenden sich bereits seit einigen Jahren von westlichen Lieferanten ab und setzen stattdessen vor allem auf China. Der Krieg und die daraus resultierenden Sanktionen haben diese Entwicklung deutlich beschleunigt.
Dass die von Westeuropa nach China verlaufenden Landhandelswege – die durch die Transitländer Ukraine, Belarus und Russland verlaufen – nahezu vollständig verschlossen wurden, ist hingegen wirklich ein Schock. So abrupt und drastisch hat sich seit langer Zeit kein Handelskorridor mehr verändert. Der Handel geht nun Umwege über längere und weniger effiziente Routen.
Christian Toben: Neben diesen unmittelbaren Auswirkungen hat der Konflikt auch zu einem Umdenken im Außenhandel und in der Politik Westeuropas geführt. Handelsrouten, die bislang kaum in die internationalen Lieferketten eingebunden waren, könnten in den Fokus rücken. Das ermöglicht neuen Akteuren den Eintritt in neue Märkte. Welche Handelskorridore sich dabei herauskristallisieren werden, lässt sich noch nicht sagen – im Außenhandel sollte man für Veränderungen gewappnet sein. Wir stehen auch in dieser Zeit erhöhter Unsicherheit in engem Austausch mit unseren Firmenkunden und unterstützen sie bei ihrer Suche nach alternativen Märkten auch durch den Einsatz unseres Netzwerks.
In Wirtschaft und Handel wird verstärkt das Thema Regionalisierung diskutiert. Stellen die aktuellen Ereignisse das vermeintlich unaufhaltsame Voranschreiten der Globalisierung infrage, und wenn ja, welchen Einfluss hat das auf die Lieferkettenplanung?
Christian Toben: Die Globalisierung wird nicht verschwinden – doch sie wird sich anpassen. Da die Versorgungssicherheit nun bei vielen an erster Stelle steht, könnte das Konzept des „Nearshorings“ dem „Friend-“ oder auch „Allyshoring“ weichen. Durch den Handel mit Ländern, die ähnliche Werte, politische Institutionen und strategische Prioritäten teilen, lässt sich das Lieferkettenrisiko mildern. Gleichzeitig sollten Produzenten sich nicht von einem Abhängigkeitsverhältnis in das nächste begeben.
Juan Löhnert: Ich stimme zu. Künftig werden Diversifizierung und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Handelspartnern im Fokus stehen. Hersteller werden ihre Produktion also weiter auslagern, aber sie werden sich dabei wahrscheinlich nicht mehr so sehr auf China verlassen wie zuvor. Vielleicht werden Kapazitäten nach Indien, Afrika oder – hoffentlich – Lateinamerika verlagert. Nach Deutschland z. B. wird die Produktion jedoch nicht zurückkehren, dafür sind die Arbeitskräfte einfach zu teuer. Die produzierten Produkte wären nicht wettbewerbsfähig.
Ivica Langauer: Ganz genau. Man denke nur an die aktuellen Inflationsängste in Europa. Die Produktion lässt sich nicht zurückholen – die Preise vieler Alltagsprodukte würden sich verdoppeln, verdrei- oder vervierfachen.
Christian Toben: Die Auswirkungen der Pandemie und die direkteren Folgen des Kriegs haben offenbart, wie verwundbar, empfindlich und risikoanfällig lange globale Lieferketten und die beliebte Just-in-time-Produktion sein können. Zusammen mit der Rohstoffknappheit hat dies einen unmittelbaren Einfluss auf die Herstellungs- und Produktionsprozesse, in Deutschland und weltweit.
Ein gutes Beispiel dafür sind die jüngsten Störungen in der deutschen Automobilbranche. Dazu kam es nämlich unter anderem, weil die meisten verbauten Kabelbäume von ukrainischen Unternehmen hergestellt und geliefert wurden. Das ist nur ein kleines Bauteil, doch die Folgen sind schwerwiegend: Ganze Produktionslinien hat es zum Erliegen gebracht.
Umfragen haben gezeigt, dass bis zu 50 Prozent aller Unternehmen Lieferkettenprobleme und Rohstoffknappheit zu bewältigen haben. Diese Herausforderungen werden weitreichende Veränderungen nach sich ziehen. Früher ging es beim Aufbau einer Lieferkette in erster Linie um die Effizienzmaximierung des Betriebskapitals – daher der Just-in-time-Ansatz. Künftig werden sich die Prioritäten in Richtung Beschaffungssicherheit verschieben. Lieferantentreue wird weiter an Bedeutung gewinnen, Lagerhaltung zunehmen und die Finanzierungsstrukturen werden sich verändern.
Wandel ist unausweichlich und ging stets Hand in Hand mit dem globalen Handel. Neu sind jedoch die Geschwindigkeit und Frequenz der Veränderungen, die Marktakteuren immer weniger Zeit lassen, sich anzupassen. Banken müssen ihre Kunden anders unterstützen, sie müssen schneller und flexibler werden und Lösungen für Betriebsmittelfinanzierungen bereitstellen, mit denen Firmenkunden widerstandsfähigere Lieferketten auf- und ihr Geschäft ausbauen können.
Der andauernde Konflikt macht sich überall auf der Welt bemerkbar. Wie gehen die verschiedenen Märkte mit diesen Herausforderungen um? Hält der Wandel auch Chancen bereit?
Juan Löhnert: Praktisch jedes Land, das grenzüberschreitenden Handel betreibt, ist vom Krieg und den daraus resultierenden Sanktionen betroffen. Schwellenländer stehen unter erheblichem Druck. Wie bei jeder Krise sind die verschiedenen Märkte auf unterschiedliche Weise betroffen, und einige stärker als andere. Paraguay war beispielsweise besonders von seinen Fleischexporten nach Russland abhängig. Aufgrund der einzigartigen Umstände eines jeden Marktes sind die Ansätze der Kunden bei der Minimierung der Risiken oder Ergreifung von Chancen äußerst vielseitig. Apropos Chancen: Venezuela, einem international isolierten Land, das unter Wirtschaftssanktionen leidet, bietet sich nun die Möglichkeit, sich als globaler Öllieferant zu positionieren.
Franz Murr: In Asien sind drei wichtige Import-, Export- und Produktionstrends zu beobachten. Erstens: Einige Märkte haben nicht notwendige Importe gestoppt. Ein Beispiel dafür ist Sri Lanka, das bei den hohen Energie- und Lebensmittelpreisen kaum mithalten kann und kurz vor dem Staatsbankrott steht. Pakistan hat aufgrund seiner niedrigen Devisenreserven die Einfuhr von Luxusgütern, darunter auch Autos, gestoppt. Das wiederum wirkt sich auf die Exporte anderer Märkte aus. Der zweite Trend sind Beschränkungen des Exports. So hat etwa Indien die Ausfuhr von Weizen eingestellt, um der Nahrungsmittelknappheit innerhalb der eigenen Grenzen Einhalt zu gebieten.
Drittens gibt es noch anhaltende Auswirkungen der Corona-Pandemie zu berücksichtigen. Viele Industrien mussten angesichts der harten Lockdowns in Ländern wie China oder Vietnam umsiedeln, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Vietnam musste zum Beispiel mitansehen, wie ein signifikanter Teil seiner beachtlichen Textilindustrie nach Pakistan und Bangladesch abgewandert ist. Und dort, wo die Produktion jetzt angelaufen ist, wird sie wahrscheinlich zu einem gewissen Grad auch erst einmal bleiben.
Kristina Holzhäuser: Marktstörungen haben stets zwei Seiten. Was für die einen ein Hindernis darstellt, kann woanders Chancen schaffen. Afrika hat nun die Chance, die derzeitige Krise zu nutzen. Was die Corona-Pandemie für die Digitalisierung getan hat, könnte der Ukrainekrieg für die Energiewende tun – und Afrika hat die Kapazitäten, um die Einführung erneuerbarer Energien zu beschleunigen.
Die Risiken der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sind deutlich geworden und alle Länder, die auf kostspielige Energieimporte angewiesen sind, dürften nun noch mehr in erneuerbare Energien investieren. Teile Afrikas könnten davon angesichts des immensen Potenzials für Wind-, Solar- und Wasserkraft – die mit dem technologischen Fortschritt auch für die Erzeugung grünen Wasserstoffs genutzt werden könnten – massiv profitieren. Mit den richtigen Investitionen könnten Länder wie Marokko, Namibia, Ägypten und Kenia zu globalen Energiezentren werden.
Juan Löhnert: Ivica Langauer hatte vorhin die weltweiten Folgen der Inflation erwähnt, die wir hier auch nicht außer Acht lassen sollten. Nach Jahren historischer Tiefststände sind die Zinssätze zuletzt wieder gestiegen. Theoretisch könnten Anleger daher lieber auf die relative Sicherheit größerer Volkswirtschaften setzen wollen, statt in Schwellenländer zu investieren. Praktisch dürften viele Investoren jedoch zwischen den einzelnen Ländern differenzieren und genauer hinschauen, um die besseren Anlagechancen zu identifizieren. Mit ihrem umfangreichen Netzwerk aus regionalen Expertinnen und Experten ist die Commerzbank in der Lage, genau die Beratung und Lösungen anzubieten, die Unternehmen brauchen, um sich in einer komplexen, sich schnell verändernden Welt neu zu positionieren.